15.02.2005

Sozialverträgliche Studiengebühren gibt es nicht

Pro-Behauptung zwei: Die Vorteile von Studiengebühren überwögen ihre möglichen Nachteile (etwa einer sozial ungleichen Verteilung von Bildungschancen) dann, wenn ihre Einführung mit einem sozial verträglichen Finanzierungssystem verbunden sei, welches es jeder und jedem ermögliche, unabhängig vom Einkommen des Elternhauses zu studieren.
  Richtig ist: Bisher konnte weder empirisch noch theoretisch nachgewiesen werden, dass »sozialverträgliche« Studiengebühren möglich sind. Die entsprechenden Modelle, die solches behaupten, laufen lediglich auf eine strukturelle Individualisierung der Chancenungleichheit hinaus.
  Die Behauptung, sozialverträgliche Studiengebühren seien möglich, ist der Dreh- und Angelpunkt aller aktuell gehandelten Modelle für Studiengebühren bzw. Bildungsgutscheine. Diese markiert zugleich die politische Achillesverse ihrer VerfechterInnen. Wenn nämlich nachgewiesen werden kann, dass diese Behauptung falsch ist, fehlt ein tragender Pfeiler in der Argumentation pro Studiengebühren. Im Krefelder Aufruf vertritt das ABS die These, dass sozialverträgliche Studiengebühren ein Widerspruch in sich sind. Die Begründung dafür lautet, dass alle Studiengebührenvarianten ausnahmslos Bildungsbeteiligung mit der so genannten Primärverteilung des Sozialproduktes verkoppeln. Diese ergibt sich aus der jeweiligen Stellung der einzelnen Menschen im System der gesellschaftlichen Produktion und spiegelt folglich dessen strukturelle Ungleichheiten wider. Die Primärverteilung des Sozialproduktes ergibt sich im Wesentlichen aus den Arbeitseinkommen (oder mittelbar an diese gekoppelte Lohnersatzleistungen) sowie aus den Einkommen aus Kapital und Vermögen (d. h. mittelbaren oder unmittelbaren Besitztiteln auf Produktionsmittel). Die diversen juristischen Einkommensarten sind folglich auf die ökonomischen Grundkategorien Arbeit und Kapital rückführbar. Anders gesagt: Diese Primärverteilung lässt sich nicht allein so beschreiben, dass Menschen unterschiedlich viel Geld verdienen, sie ist auch ein Ausdruck von Machtbeziehungen und strukturell unaufhebbaren Ungleichheitsverhältnissen. Durch Marktbeziehungen wird die Ungleichheit der sozialen Grundverhältnisse eher noch verstärkt – und zugleich durch den Mechanismus der juristischen Individualisierung (VerkäuferIn – KundIn) verschleiert. Nach den Erfahrungen aller kapitalistischen Industriegesellschaften aber lässt sich den Ungleichheitsverhältnissen und bildungsdiskriminierenden Effekten der sozialökonomischen Kernstrukturen nur durch die Sekundärverteilung des Sozialproduktes über Steuern und Abgaben bis zu einem gewissen Grade entgegenwirken, etwa indem dieses System Bildung ermöglicht (z. B. durch ein gebührenfreies Hochschulstudium) und Bildungsbeteiligung sozial fördert (z.B. durch das BAföG). Deswegen kann es per definitionem keine sozialverträglichen Studiengebühren geben. Diese Kritik bezieht sich auch auf (staatlich subventionierte) privat angesparte Bildungsguthaben (»Bildungssparen«) entsprechend einem Vorschlag des Sachverständigenrates Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung (SVR Böckler 1998) und auf die diversen Modelle der so genannten nachgelagerten Studiengebühren (etwa Dräger 2003, BDA 2004). Auch nach diesem Konzept würde im gesamtgesellschaftlichen Resultat die Diversifizierung unterschiedlicher Sparguthaben die strukturell ungleiche Primärverteilung lediglich abbilden.
 

Bildungsbeteiligung nicht auf Kreditwürdigkeit reduzieren

In allen gegenwärtig gehandelten Studiengebührenmodellen kann die Annahme, »soziale Verträglichkeit« sei möglich, nur damit begründet werden, dass die Frage der Bildungsgerechtigkeit vom Kriterium der gesamtgesellschaftlichen Verteilung von Bildungschancen entkoppelt – und damit entpolitisiert – wird. Die BefürworterInnen solcher Konzepte reduzieren den Aspekt der »sozialen Verträglichkeit« somit auf die Frage der individuellen Zumutbarkeit von Kreditbedingungen. Ihre These lautet, dass dann, wenn jeder und jedem das Recht eingeräumt werde, Studiengebühren elternunabhängig als Kredit vorgestreckt zu bekommen und wenn diese Kreditsumme (plus Zinsen in den gängigen deutschen Modellen) erst über einen längeren Zeitraum in Abhängigkeit vom späteren Einkommen zurückgezahlt werden müsse, Chancengleichheit hergestellt sei. Vorbild ist hier das 1989 in Australien eingeführte Studiengebührenmodell Higher Edcation Contribution Scheme (HECS), auf das sich hierzulande insbesondere der industrieeigene Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und das Bertelsmann nahe Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) kapriziert haben (vgl. zum australischen Modell und zur deutschen Debatte: Himpele/Schewe 2004). Die Rückzahlungsverpflichtung greift in diesem Modell erst ab einem nach Studienabschluss erzielten Mindesteinkommen, welches jeweils politisch festgelegt wird (die BDA schlägt eine Zahlungspflicht ab 12.500 Euro Bruttojahreseinkommen vor, vgl. BDA 2004), wobei die Raten entsprechend der Einkommenshöhe gestaffelt werden. Ausgangspunkt derartiger Modelle ist das abstrakte juristische Individuum, das rational seine Chancen und Risiken unter ökonomischen Aspekten kalkuliert. Durch diese Konstruktion wird von allen sozialen und kulturellen Bedingungen abstrahiert, die persönliche Bildungsentscheidungen und Wahrnehmung individueller Chancen determinieren. Damit werden die subtilen gesellschaftlichen Mechanismen von Bildungsdiskriminierung ignoriert und zugleich gestärkt. Denn Bildungsdiskriminierung resultiert nicht allein aus unterschiedlichen familiären Einkommenssituationen, sondern ist komplexerer Natur: »So wird beispielsweise zu wenig berücksichtigt, daß ein Arbeiterkind möglicherweise einen schlechteren Zugang zu komplexer Sprache und Büchern hat und für eine ›Zwei‹ in Deutsch dementsprechend eine ungleich größere Leistung vollbringt als ein AkademikerInnenkind, das bereits im Elternhaus eine intensive Sprachförderung genießt [...] Oder die ›Zwei‹ eines nicht-deutschen Kindes, in dessen Elternhaus eine andere Muttersprache gesprochen wird. In ihren Heimatländern wären diese Kenntnisse einer Fremdsprache locker mit ›sehr gut‹ zu bewerten. Ihre Erstsprache findet im deutschen ›Leistungssystem‹ keine Berücksichtigung« (Weckel, 1999, S. 35).
Wenn der Erfahrungswert sozialer Verträglichkeit des »Australischen Modells« von seinen VerfechterInnen ausschließlich damit begründet wird, dass seit seiner Einführung die StudentInnenzahl gestiegen sei (Müller-Böling, 1996, S. 2), dann ist dieser Hinweis ebenso trivial wie nichts sagend. In allen Industriestaaten ist im vergleichbaren Zeitraum die StudienanfängerInnenzahl gestiegen. Die absolute Zahl der StudentInnen sagt nicht das Geringste über deren soziale Zusammensetzung aus. Und in Bezug auf Australien lässt sich feststellen, dass die Zahl der StudentInnen aus einkommensschwachen Familien so extrem niedrig geblieben ist, wie sie es vor 1989 auch war (vgl. Süddeutsche Zeitung, 10./11. Januar 1998). Die Annahme der Chancengleichheit stimmt also nicht einmal innerhalb der immanenten ökonomischen Konstruktion. Das wird schon dadurch deutlich, dass in den entsprechenden Modellen mit den Einsparungsmöglichkeiten der Direktzahlung, d. h. ohne Kreditaufnahme, förmlich geworben wird: »Die unsubventionierte Verzinsung der Darlehen erzeugt einen Anreiz zur Sofortzahlung« (Stifterverband/CHE, 1998, S. 15), bei der folglich die kapitalmarktüblichen Zinsen vollständig wegfallen. In Australien erhalten DirektzahlerInnen (»upfront payers«) 25 Prozent der Gebührensumme erlassen. Die Darlehen werden dort zwar nicht verzinst, allerdings der Inflationsrate angepasst. So hat etwa der australische studentische Dachverband ausgerechnet, dass einE Jura-StudentIn mit Darlehen effektiv bis zu dreimal soviel bezahlt wie einE Kommilitone/in, der/die sich »upfront« leisten kann (Süddeutsche Zeitung, 10./11. Januar 1998). Auf diese Weise ist Ungleichheit bereits in den unmittelbaren Zahlungsbedingungen festgeschrieben; so wie generell die individuelle Möglichkeit, persönliche Risiken durch Verschuldung tragen zu können, durch die familiäre finanzielle Situation der Einzelnen determiniert ist. Hinzu kommen Mechanismen geschlechtsspezifischer Diskriminierung: »Daß Frauen auch bei gleicher Qualifikation im statistischen Mittel weniger verdienen als Männer, mithin die ›Verzinsung‹ ihrer Bildungsinvestitionen schlechter ist, ist schon seit längerem nachgewiesen« (Färber, 1995, S. 30). Eine australische Hochrechnung kommt zum Schluss, dass bei einer angenommenen Verschuldung von 20.000 australischen Dollar (AUD) Männer im Durchschnitt 17 Jahre, Frauen hingegen 51 Jahre lang ihre HECS-»Schulden« zurückzahlen müssen. (Vgl. Jackson 2002)Von diesem Sachverhalt, dass »Studentinnen [...] die systematisch schlechteren Bildungsrenditen [haben]« (Färber 1995,, S. 32), wird in der Verkoppelung von Studiengebühren und künftigem Einkommen vollständig abstrahiert. Damit werden Ungleichheitsverhältnisse vor und während des Studiums nicht nur nicht abgebaut, sondern quasi in die Zeit danach verlängert und zugleich unsichtbarer gemacht.
Nach einem Regierungswechsel in Australien kam es 1997 zu einer Reform des HECS-Modells: Die Gebühren wurden nach drei Studienrichtungen gestaffelt, »um die Verdrängung der weniger ›marktfähigen‹ Studiengänge aufzuhalten« (Nagel/Jaich, 2002, S. 177). Gleichzeitig wurden die Rückzahlungsbestimmungen verschärft. Dieser Trend setzt sich jedoch fort. Die Regierung »will das HECS-Modell zur Studienfinanzierung ändern. Ende 2000 [...] kam der Inhalt eines internen Regierungspapiers an die Öffentlichkeit. Darin empfahl der Minister für Jugend und Bildung, die Höhe der Studiengebühren freizugeben und künftig Zinsen auf die HECS-Schulden einzuführen. Für den Staat könnte HECS so zu einem profitablen Zweig werden« (taz, 22. August 2001). Dies zeigt deutlich, dass die »Einführung von Studiengebühren [...] immer die Möglichkeit in sich [birgt], den Kostenanteil der StudentInnen zu erhöhen und damit selektiv auf die Nachfrage zu wirken« (Nagel/Jaich, S. 177).


Aktionsbündnis gegen Studiengebühren - http://abs-nrw.de/argumente/studiengebuehren/0045.html - Ausdruck erstellt am 21.06.2006, um 08:42:23 Uhr