20.06.2006

"Ich begrüße Autobahnblockaden"

Interview mit Nele Hirsch in der Jungen Welt vom 20. Juni 2006

Interview mit Nele Hirsch in der Jungen Welt vom 20. Juni 2006. Die Originalquelle findet sich hier.[1]

»Ich begrüße die Autobahnblockaden«
Proteste gegen Studiengebühren werden radikaler. Bündnis mit Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen notwendig für Erfolg. Ein Gespräch mit Nele Hirsch
»Ich begrüße die Autobahnb
Nele Hirsch ist bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke

Für die kommenden Wochen sind bundesweit zahlreiche Großdemonstrationen gegen Studiengebühren und Bildungsabbau avisiert. Die Veranstalter rechnen mit mehreren zehntausend Teilnehmern. Wie realistisch sind solche Prognosen?
Ich halte sie für realistisch. Seit mehreren Jahren wird mit schöner Regelmäßigkeit behauptet, der Protest gegen Studiengebühren habe sich erledigt, da Studiengebühren angeblich ohnehin nicht mehr zu verhindern seien. Offensichtlich sehen das viele Studierende aber anders. Gerade in diesem Sommersemester haben sie es mit zahlreichen Aktionen und Protesten erneut geschafft, ihren Widerstand gegen die Einführung von Studiengebühren in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich gehe deshalb davon aus, daß auch die angekündigten Großdemonstrationen in den nächsten Wochen sehr gut besucht sein werden. Vor allem, wenn es gelingt, auch Schülerinnen und Schüler und weitere Bündnispartner zu mobilisieren.

Ist das nicht zu optimistisch? In der Vergangenheit ließ die studentische Protestbereitschaft sukzessive nach, je näher die Semesterferien rückten.
Es war oft so, daß die Proteste mit Beginn der Semesterferien beendet waren. Das ist richtig. Meine Einschätzung zur Zeit ist aber, daß wir die Höhepunkte der Proteste noch nicht erreicht haben. Durch die Aktionen der vergangenen Wochen sind immer mehr Studierende dazugekommen. Und auch die öffentliche Resonanz ist momentan deutlich stärker, als es viele erwartet hätten. Das motiviert natürlich zum Weitermachen.

Sie glauben also, die Proteste haben das Zeug, die Sommerfe­rien zu überdauern?
In den Semesterferien wird es wohl keine Massendemonstrationen geben. Schon allein, weil viele Studierende dann gar nicht an ihrem Hochschulort sind. Aber nichts spricht dagegen, daß man im Wintersemester direkt an erfolgreiche Proteste im Sommersemester anknüpft und die Proteste wieder aufnimmt.

Was macht die Bewegung in Ihren Augen zu einer anderen als in den Jahren zuvor?
Die Studierenden sind offensiver, und es werden radikalere Protestformen gewählt. Nachdem den Protestierenden jahrelang Schwarzmalerei vorgeworfen wurde, liegen die Konzepte für allgemeine Stu­diengebühren jetzt auf dem Tisch. Viele, die den politischen Absichtserklärungen der zurückliegenden Jahre Glauben geschenkt hatten, sind enttäuscht und wütend. Anstatt nur Podiumsdiskussionen zu organisieren und zu Demonstrationen aufzurufen, blockieren sie Autobahnen und besetzen Gebäude. Ich begrüße diese Proteste. Die herrschende Politik führt schließlich auch einen immer ungeschminkteren Bildungs- und Sozialabbau durch. Vollkommen unverhältnismäßig sind die jeweils massiven Polizeiaufgebote. Es ist erschreckend, wie repressiv in vielen Orten gegen die Studierenden vorgegangen wird. Mit dieser Kriminalisierung der Proteste muß Schluß sein.

Nicht wenige der Aktivisten spreichen bereits von »französischen Verhältnissen«. Was müßten deutsche Studierende von ihren französischen Kommilitonen lernen?
Es muß klar sein, daß man den Kampf um die Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums nicht isoliert von anderen bildungspolitischen und sozialen Auseinandersetzungen führen kann. Nur wenn Bildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird und man aus der Hochschule heraus das Bündnis mit Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen sucht, können wir auch bei uns zu französischen Verhältnissen kommen.

Fehlt es hierzulande dazu nicht an der nötigen Unterstützung? Zu mehr als wohlfeilen Solidaritätsadressen haben sich die Gewerkschaften bis dato jedenfalls nicht mitreißen lassen.
Gewerkschaftliche Unterstützung ist für einen erfolgreichen Protest unerläßlich. Das hat nicht zuletzt Frankreich gezeigt, wo die Gewerkschaften maßgeblich zur Mobilisierung beigetragen haben. Damit ähnliche Erfolge auch hier erreicht werden können, muß die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten verstärkt werden. Gemeinsam gilt es, den Zusammenhang zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem herzustellen. Die Frage, für welche Bildung wir streiten, kann schließlich nicht von der Frage getrennt werden, wie wir leben und arbeiten wollen.

Interview: Ralf Wurzbacher



Links:
[1] http://www.jungewelt.de/2006/06-20/002.php

Aktionsbündnis gegen Studiengebühren - http://abs-nrw.de/presse/presseschau/0530.html - Ausdruck erstellt am 11.10.2006, um 15:07:21 Uhr