Pro-Behauptung eins: Studiengebühren seien aus Gründen der sozialen Verteilungsgerechtigkeit erforderlich, da öffentliche Hochschulen aus dem Gesamtsteueraufkommen finanziert werden. Dieses werde überwiegend von den unteren und mittleren Einkommensgruppen erbracht, während an den Hochschulen vor allem Angehörige der »oberen« sozialen Schichten studierten. Faktisch bedeute daher ein »kostenfreies« Studium eine Umverteilung »von unten nach oben«. Eine private Kostenbeteiligung der NutzerInnen von Hochschulen sei folglich geboten.
Richtig ist: In letzter Konsequenz würde die schrittweise Privatisierung von zuvor öffentlich finanzierten Bildungskosten auch noch das Minimum an realisierter Bildungsgerechtigkeit beseitigen. Die im gegenwärtigen Steuersystem angelegte Umverteilung von unten nach oben würde auf diese Weise lediglich fortgesetzt und weiter verschärft.
Das Argument der Verteilungsgerechtigkeit wird in der öffentlichen Debatte häufig moralisch-populistisch zugespitzt: Die Putzfrau oder der Briefträger würden mit ihren Steuern dem reichen Zahnarztsohn sein kostenloses Studium finanzieren. Die Funktion dieses Arrangements liegt auf der Hand: Denjenigen, die Studiengebühren aus Gründen einer breiten sozialen Ermöglichung des Hochschulstudiums ablehnen, soll das Gleichheitsargument aus der Hand geschlagen werden; die GebührenbefürworterInnen erscheinen hingegen als die wahren VerfechterInnen von Chancengleichheit.
Eine derartige Argumentation stützt sich hauptsächlich auf die Untersuchung des Erlanger Volkswirtschaftsprofessors Karl-Dieter Grüske (1994), die in der eingängigen Forderung gipfelt: »Die Lasten der Hochschulfinanzierung sollten von jenen getragen werden, die unmittelbare Nutznießer der Hochschulbildung sind.« (ebd., S. 123). Grüske hatte die »Verteilungseffekte der öffentlichen Hochschulfinanzierung« – gestützt auf Werte aus dem Beginn der achtziger Jahre – untersucht und dabei Steueraufkommen, Hochschulzugang, Studienplatzkosten sowie steuerpflichtige Erwerbseinkommen von AkademikerInnen in ein systematisches Verhältnis gesetzt. Weitgehend unbestritten ist, dass AkademikerInnen im (statistischen) Durchschnitt 156 Prozent des Lebenseinkommens der NichtakademikerInnen verdienen (ebd., S. 121). Grüske berechnete den – theoretischen – Steueranteil dieser Durchschnittseinkommen von HochschulabsolventInnen, welcher auf die öffentlichen Hochschulinvestitionen von Bund und Ländern (aktuell ca. 20 Milliarden Euro jährlich) entfällt und setzt diese Steuerbruchteile in ein Verhältnis zu den Kosten eines Studienplatzes. Nach aktuellen allgemein gehandelten Werten »kostet« etwa ein vollständiges Universitätsstudium rund 67 000 Euro (vgl.: iwd, 25. Juli 1996, S. 6). Das ist ein reiner Durchschnittswert, da die Kosten nach Studienfächern stark variieren (z. B. Jura: 16 000 Euro; Humanmedizin: 140 000 Euro). Grüske kommt zu dem Schluss, dass in keiner der verschiedenen von ihm durchgerechneten Varianten »die Nutznießer der öffentlich finanzierten Hochschulbildung die in Anspruch genommenen Leistungen über ihre hochschulbezogenen Abgaben während ihres Erwerbslebens auch nur annähernd zurück[zahlen]«. Differenziert nach Fachrichtungen läge diese »Rückzahlungsquote« zwischen zehn und zwanzig Prozent. Mit anderen Worten: Die Finanzierungslücke wird entsprechend zu 80 bis 90 Prozent von NichtakademikerInnen geschlossen, die in diesem Umfang die Ausbildungskosten von StudentInnen übernehmen (Grüske, 1994, S. 121).
Die Erkenntnisse Grüskes sind jedoch methodisch nicht haltbar. So wurde z. B. das Haushaltseinkommen unabhängig von der Haushaltsgröße betrachtet. Da StudentInnen ihren Herkunftshaushalten zugeordnet werden, kommen sie in der Regel aus verhältnismäßig großen Haushalten. »Große Haushalte werden aber systematisch als zu wohlhabend eingestuft« (Sturn/Wohlfahrt, 2000, S. 8). Das drückt sich darin aus, dass ein Singlehaushalt mit einem Nettoeinkommen von beispielsweise 1500 Euro bei Grüske als ärmer gilt als eine sechsköpfige Familie mit einem Nettoverdienst von 3000 Euro. Bei der von Grüske behaupteten Umverteilung von NichtakademikerInnen zu AkademikerInnen liegt die methodische Schwäche in der Nicht-Berücksichtigung des so genannten »Glättungsvorteils«. Dabei ist »der progressive Tarif der deutschen Einkommensteuer zu beachten. Dieser bringt es mit sich, dass bei gleichem Lebenseinkommen jene Steuerzahler, welche über die Zeit einen weniger glatten Einkommensstrom aufweisen, mehr Steuern zahlen. Ein Studium zeitigt typischerweise einen weniger glatten Einkommensstrom, da einer einkommensschwachen Studienphase einkommensstärkere Erwerbsphasen folgen. Daher entgeht AkademikerInnen systematisch ein Glättungsvorteil beträchtlicher Größenordnung [...]« (Sturn/Wohlfahrt, 2000, S. 3f). Hier liegen keine Berechnungen für Deutschland vor, in Österreich wurde jedoch ein »entgangener Glättungsvorteil für Akademiker im Vergleich zu Abiturienten in der Größenordnung von DM 50 000 [...] errechnet« (ebd.). Grüske versucht im Jahr 2001, die Studie von Sturn und Wohlfahrt zu widerlegen. Hierbei hält er jedoch von vorneherein an seiner Prognose fest und wiederholt im Wesentlichen seine Aussagen von 1994, welche noch immer die oben genannten Mängel aufweisen (Grüske, 2001).
Die von Grüske dargestellten Sachverhalte beweisen politisch nichts. Entscheidend ist, wie man die zugrunde liegenden sozialen Verhältnisse politisch interpretiert. Die Ungleichheit von Finanzierung und Nutzung öffentlicher steuerfinanzierter Investitionen gilt für nahezu alle Bereiche: vom kommunalen Opernhaus über die staatlichen Forschungssubventionen der Firma Siemens (die kaum Steuern zahlt) bis zum Bundesverkehrswegeplan. Die Nutzung solcher Investitionen erfolgt nicht sozial gestaffelt entsprechend dem Steueranteil, der in ihre Finanzierung eingegangen ist, sondern entsprechend individueller Kaufkraft und ökonomischer Macht. Grüske hat im Grunde nichts anderes getan, als diese an sich triviale Erkenntnis nochmals mathematisch zu beweisen. Die von ihm und anderen geschilderten Verhältnisse sind Ausdruck struktureller gesellschaftlicher Ungleichheit in der Produktion, Verteilung und Aneignung des Sozialproduktes. So ist es ein durchgehendes Merkmal aller kapitalistischen Gesellschaften, dass der größere Anteil des Gesamtsteueraufkommens aus so genannten Massensteuern, das heißt aus Lohnsteuern und (indirekten) Konsumsteuern, erbracht wird, der weitaus geringere Anteil hingegen aus Steuern, welche auf Spitzenverdienste bzw. auf Kapital- oder Vermögenseinkommen erhoben werden. Die Proportionen zwischen den genannten Steuerkategorien sind aber politisch gestaltbar. In den letzten Jahren sind sie entscheidend zuungunsten der mittleren und unteren Einkommensgruppen verschoben worden: »Würden die Steuern auf Gewinne im gleichen Umfang (bezogen auf die Anteile an den Gesamtsteuereinnahmen) zur Finanzierung der Staatsaufgaben herangezogen wie 1980 [...] hätten die öffentlichen Haushalte 1995 rund 86 Mrd. DM mehr zur Verfügung gehabt” (Eißel, 1998, S. 51). Und so ging es auch unter rot-grün weiter: Mit einer Steuerquote wie im Jahr 2000 hätten die öffentlichen Haushalte im Jahr 2004 60 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gehabt (Vgl. Verdi 2004, S. 2). Signifikanterweise sind diejenigen, die diese reale Umverteilung »von unten nach oben« politisch zu verantworten haben, überwiegend identisch mit denen, die (im Namen der »kleinen Leute«) am lautesten die Wiedereinführung von Studiengebühren fordern. Wenn die Privatisierung von Bildungskosten dann noch mit dem selbst produzierten und gewollten »Sachzwang« sinkender Steuereinnahmen begründet wird, handelt es sich um eine tautologische Argumentationsspirale.
Was folgt nun bildungspolitisch aus der Feststellung dieser Ungleichheitsverhältnisse in der Finanzierung und Nutzung des öffentlichen Bildungssystems? Getreu dem Postulat »Wer den Nutzen hat, soll auch die Kosten tragen!« plädieren Grüske und seine politischen NachbeterInnen für die Einführung von Bildungsgutscheinen (vgl. zu Bildungsgutscheinen: Himpele 2002, ABS 2005) und Studiengebühren (Grüske, 1994, S. 124). Diese Schlussfolgerung wird kaum weiter begründet, weil sie anscheinend durch ihre pure Evidenz gerechtfertigt ist. Indem so Studiengebühren als quasi naturgesetzliche Konsequenz dargestellt werden, werden andere Schlüsse und Fragestellungen, die sich aus den gleichen Befunden ebenso ergeben könnten, Ziel gerichtet ausgeklammert. Schließlich ließe sich auch fragen: »Wie können Kosten und Nutzen der staatlichen Bildungseinrichtungen verallgemeinert werden?« Genauer: Welche politischen Maßnahmen sind erforderlich, um den Hochschulzugang sozial weniger selektiv zu gestalten? Und: Wie kann ein gerechteres Steuersystem geschaffen werden, das auch SpitzenverdienerInnen (ob AkademikerInnen oder NichtakademikerInnen) zu einer adäquaten Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzieht. Diese politische Perspektive wird aber derzeit maßgeblich aus Gründen der Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“ des Standorts Deutschland offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Sie würde aber die Diskussion um Studiengebühren wenn nicht obsolet, dann aber zumindest ehrlicher machen: Die Einführung von Studiengebühren ist nur ein Bestandteil einer konsequenten Umverteilungspolitik von unten nach oben, das machen auch Arbeitsmarktreformen oder neuere gesundheitspolitische Konzepte deutlich. Eine politische Alternative wird derzeit nur von wenigen formuliert. Nach allen vorliegenden historischen Erfahrungen hängt der Grad an relativer Chancengleichheit im Zugang zu Bildung, Berufen und Einkommen direkt proportional vom Umfang öffentlicher (steuerfinanzierter) Investitionen in Bildung und Beschäftigung ab. Anders ausgedrückt: »Natürlich profitieren die ärmeren Familien weniger von der Bildungssubvention, als ihrem Beitrag zu Steuern entspricht, und insofern findet in der Tat eine Umverteilung von unten nach oben statt, nur: ohne Bildungssubventionen stünden diese Haushalte zwangsläufig noch schlechter da« (Paetow, 1985, S. 718). Daher ist es ein politischer Bumerang – oder, je nach Blickwinkel, ein bodenloser Zynismus – die Einführung von Studiengebühren mit den geringeren Studienchancen unterer und mittlerer Einkommensgruppen zu begründen.