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08.07.2006

Kostenlose Kindergärten vs. Bezahlstudium?

Studis-Online vom 7.7.2006

Studis-Online vom 7.7.2006. Die Originalquelle findet sich hier.

Kostenlose Kindergärten vs. Bezahlstudium?

Im deutschen Bildungssystem geschieht wirklich viel: Da attestiert nicht nur PISA den Schulen, ungerecht weil sozial selektiv zu sein. Da rufen mehr und mehr Politikerinnen und Politiker plötzlich nach unentgeltlichen KiTa-Plätzen, führen zeitgleich jedoch Studiengebühren ein und beschränken mehr und mehr den Hochschulzugang. Doch was hat das eine eigentlich mit dem andern zu tun? Was ist das politische Ziel?

Eine Analyse der Reformen im Hochschulbereich von Jens Wernicke

Bereits im Juni 2003 hatten Torsten Bultmann und Oliver Schöller in einer Analyse zur "Zukunft des Bildungssystems" darauf hingewiesen, dass die momentanen Reformen im Bildungsbereich zwar vieles veränderten, keinesfalls jedoch mehr Bildung, Chancen oder Gerechtigkeit brächten.

Vielmehr sei die zunehmende "Durchsetzung einer stärkeren Marktsteuerung [zu beobachten], in deren Logik es liegt, dass Bildungsbeteiligung immer weniger über Rechtsansprüche, sondern statt dessen über individualisierte Vertragsbeziehungen reguliert [würde]" (Bultmann/Schöller, S. 14). Unter diesen Rahmenbedingungen sei die so genannte "Modernisierung", mit der wir es mehr und mehr zu tun bekommen, "vor allem eine Modernisierung von Auslesemechanismen" (ebd.) - und wenig mehr.

Modernisierung von Auslesemechanismen deshalb, weil Lobbyarbeit (siehe hierzu auch den Studis-Online-Artikel "Der Einfluss von Lobbyorganisationen und Wirtschaft im Diskussionsfeld Studiengebühren") es in den letzten Jahren durchzusetzen vermocht habe, dass staatliche Reformen im Bildungs- wie auch sozialen Bereich nun stets davon ausgingen, die Ausgaben könnten auf keinen Fall erhöht werden. Stattdessen müsse, um an der einen Stelle mehr zu tun, an der anderen eingespart werden. Dieser Prämisse folgend, so Bultmann und Schöller, sei es dann auch vollends egal, was politisch unternommen oder auch nicht unternommen würde, würden vorhandene Bildungskapazitäten doch maximal umverteilt, niemals jedoch neue geschaffen werden können.

Konkret bedeutete das: Auch würde mehr Geld in die Schulen gesteckt, um (was dringend einmal notwendig wäre) mehr auf die Schülerinnen und Schüler sowie deren individuelle Probleme eingehen zu können, müssten hierfür zeitgleich jedoch in einem anderen Bereich, beispielsweise jenem der Höheren Bildung, Einsparungen vorgenommen werden. In der Folge schafften zukünftig zwar womöglich mehr Schülerinnen und Schüler als zuvor ihren Realschulabschluss oder das Abitur, stünden diesen hiernach jedoch dann derart wenige Studienplätze zur Verfügung, dass eigentlich niemand mehr zu studieren vermögen würde - sondern eben zuvor ausgelesen wird. Schulisches Lernen würde also "leichter", Studieren hingegen fast unmöglich gemacht. Im unteren Bildungsbereich würde weniger, im oberen hingegen dann umso mehr "selektiert".

Und tatsächlich: Schaut mensch sich die aktuellen Umgestaltungen im Hochschulwesen einmal genauer an, wird deutlich, dass fast jeder politische Impuls derzeit in Richtung einer solchen Verschärfung von Auslesemechamismen - nebst zunehmender Privatisierung - geht.

Nachfolgend seien fünf Beispiele genauer untersucht und benannt.

Studiengebühren werden eingeführt

Relativ zeitgleich zur Studienreform mit Bachelor und Master werden in einer zunehmenden Zahl von Bundesländern Studiengebühren eingeführt. Ganz abgesehen davon, dass erstgenannte "Studienreform" fast idealtypische Voraussetzungen zur Einführung der Gebühren geschaffen hat (es gibt nun formale und quantifizierbare Einheiten wie ECTS, die Vergleichbarkeit und KonsumentInnensouveränität simulieren), ist als Folge solcher "Privatisierung" zumindest Folgendes abzusehen:

Die soziale Auslese im Hochschulbereich nimmt zu: Studierende aus finanziell schlechter gestellten Verhältnissen werden von der Aufnahme eines Studiums und damit einhergehender Verschuldung abgeschreckt (werden).

Für jene, die "dennoch" studieren, bedeuten die Gebühren einen noch weiter verstärkten Arbeits-, Anpassungs- und Zuverdienstdruck: Aus den 68% aller Studierenden (Achim Meyer auf der Heyde, S. 242), die bereits heute neben ihrem Studium auf Zuverdienst angewiesen sind, werden sicher bald 80%, 90% oder 100%; aus der bereits heute für 23% aller Studierenden realen 50 Stunden-Woche (ebd.) wird eine 60-, 70- oder Mehr-Stunden-Woche werden - jeweils zur Finanzierung der Gebühr. Selbstredend (ver-)bleibt somit weniger Zeit zum Hinterfragen, Verstehen und für Kritik. Und führt der erhöhte Leistungsdruck eben auch hier zu vor allem sozialer Selektion, weil unter solchen Bedingungen viele Studierende schlicht "auf der Strecke" bleiben, ihr Studium also abbrechen werden.

Weitere Informationen zu Studiengebühren unter anderem hier:
  • Aktionsbündnis gegen Studiengebühren: Studium als Investition?
  • Klemens Himpele: Eigenverantwortlich weggespart
  • Rolf van Raden: USA: Wenn das Studium für den Mittelstand unbezahlbar wird
  • Jens Wernicke: Was StudiengebührenbefürworterInnen behaupten und was man dem entgegen setzen kann
Das Recht auf einen Studienplatz wird "wegprivatisiert"

Seit dem 1. Januar 2005 wird durch das 7. Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes (7. HRGÄndG) die Studienplatzvergabe aller zulassungsbeschränkten Studiengänge neu geregelt. Das Gesetz sieht für diese nunmehr eine als 20-20-60-Regelung beschriebene Quotenverteilung vor: 20% der Studienplätze gehen an die Abiturbesten, die sich ihre Wunschhochschule aussuchen können. 20% der Studienplätze werden nach Wartezeit vergeben. Die Mehrzahl der Studienplätze jedoch, 60% nämlich, werden in Zukunft von den Hochschulen selbst - also individuell - vergeben.

Das bisher vorhandene "Recht" jedes Abiturienten und jeder Abiturientin also, nach gewisser (und zumutbarer) Wartezeit verbindlich einen Studienplatz zu erhalten, wird mittels Einführung solcherlei Verteilungsproportionen so stark konterkariert, das de facto als abgeschafft bezeichnet werden muss. Stattdessen werden Bewerberinnen und Bewerber nun mittels (vermeintlich) fachspezifischer "Studierfähigkeitstests" ausgewählt und zur Aufnahme eines Studiums qualifiziert. (Die "Allgemeine Hochschulreife" ist somit also keine selbige, kein Reifezeugnis mehr.)

Da solcherlei Auswahlverfahren stets subjektiv sind, ist zu erwarten, dass sich durch sie eine verstärkte und noch weniger als bisher schon (denn was sagt die Abiturnote schon wirklich über Menschen und deren Fähigkeiten und Interessen aus) an objektiven Kriterien festzumachende, zuerst eben soziale Auswahl der Studierenden ergibt.

Auch ist abzusehen, dass generell hochschulexterne Kriterien Einfluss auf solche Verfahren gewinnen. Konkret ist hier unter anderem die Hinzuziehung externer Personen aus der "Berufspraxis oder Berufsausbildung", wie sie beispielsweise das Thüringischer Hochschulgesetz vorsieht, gemeint. Eine solche stellt einen gravierenden Eingriff in die Hochschulautonomie dar und führt die Frage nach einer "Eignung" der Studienbewerberinnen und -bewerber schliesslich einzig auf die gerade auf dem Arbeitsmarkt herrschende Nachfrage zurück.

Weitere Informationen zu Auswahlverfahren unter anderem hier:
  • fzs: Soziale Selektivität durch Auswahlverfahren
  • Thomas Günther: Hürden vor dem Hochschulzugang. Neue Studienplatzvergabe und soziale Benachteiligung
  • Michael Hartmann: Gute Studienplätze für Reiche
Die studentische Arbeitsbelastung wird immens erhöht

Bei der Umstellung auf so genannte Studien-Module und das ECTS- Kreditpunktesystem wird von fast allen Hochschulen nicht etwa wie vorgesehen der "studentische Workload" (damit ist die tatsächliche Arbeitsbelastung der Studierenden in Stunden gemeint) dergestalt - und folglich richtig - berechnet, dass mehr Selbststudium und Eigenverantwortung ermöglicht werden, sondern so verfahren, dass fortan jedes Modul verpflichtend mit einer Klausur oder Prüfung abzuschließen ist.

Belegleistungen gibt es somit plötzlich nicht mehr, und anstatt Referate, Essays oder gar Selbststudium als "Leistungen" anzusehen (was in anderen Ländern gang und gäbe ist), schreiben die Bachelorstudierenden nun in der Regel semesterlich eine Hausarbeit pro Modul. Kurzum: Der Leistungsdruck der Studierenden wird vielerorts exorbitant erhöht - weil viele Hochschulen weder Geld für noch Interesse an tatsächlichen (also auch inhaltlichen) Reformen haben. Diese Erhöhung des Leistungsdrucks führt erneut zu einer Verstärkung von (vor allem sozialer) Auslese und Selektion.

Achim Meyer auf der Heyde, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerkes (DSW), brachte das Problem wie folgt auf den Punkt: "Bachelor und Master bedeuten für die Studierenden, dass sie im Extremfall bis zu 50, 60 Stunden die Woche in der Hochschule verbringen müssen. Studierende, die gleichzeitig kleine Kinder zu versorgen haben, werden vor großen Herausforderungen stehen [...]."

Das Notensystem verkommt zum Instrument zwingender Selektion

Mit der Einführung des ECTS-Systems schrieb die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) mittels einer saloppen Formulierung unter der Überschrift "Die Benotung" in ihrer Entschließung vom 10. Februar 2004 fest, die Notenvergabe der neu einzuführenden Studiengänge werde fortan "normalverteilt".

Konkret bedeutet dass, dass ab sofort zwingend lediglich die "besten" 10% der Studierenden eine Eins, die nächsten 25% eine Zwei, die nächsten 30% eine Drei, die nächsten 25% eine Vier und die letzten 10% eine Fünf (hier gemessen in Noten von A bis E) erhalten (können), ganz unabhängig davon, wieviel jeder und jede einzelne tatsächlich "absolut" geleistet hat.


Abbildung 1:
"Normalverteilung" nach Gauß
entsprechend Noten A 10%, B 25%, C 35%, D 25%, E 10%
(entnommen einem UNiMUT-Artikel)


Die zugrundeliegende Annahme ist hierbei jene, Leistungen seien stets "normalverteilt". Hierbei handelt es sich jedoch um "Ideologem, denn die Gaußverteilung ist nicht selbstähnlich. Mensch kann also nicht einfach ein Stück rausschneiden und hat wieder etwas, das aussieht wie die Orignialverteilung. Probiert es selbst: Seht die Kurve [Abbildung 1] an, deckt dann die rechten zwei Drittel der Kurve ab und seht, ob immer noch etwas Glockenförmiges übrig bleibt. Fehlanzeige. Warum ist das ein Problem? Nun, auch wer das Idelologem der Gaußverteilung der Schlauheit in der Gesamtbevölkerung kauft (wir tun das nicht), bekommt ein Problem, wenn er/sie mit validen Instrumenten 'bessere' Unterpopulationen auswählt - das Ergebnis sind abgeschnittene Gaußverteilungen. Je stärker ich selektiere, je mehr von der Kurve ich also abschneide, desto weniger Ähnlichkeit werden sie mit einer vollen Gaußverteilung haben, schließlich werden sie nur noch einem (wenn wir von rechts wegschneiden) eleganten Aufschwung ähneln. Da das Benotungssystem auf der Annahme der Gaußverteilung beruht und seine Annahmen falsch werden, wird es selbst hinfällig" (UNiMUT).

Da das die HRK aber wenig interessiert, wird es mit den Studienordnungen dennoch eingeführt - und führt, um nur ein Beispiel zu nennen, dazu, dass 90% der Studierenden auf gar keinen Fall "sehr gute" Leistungen zu erbringen vermögen. (Komische Eigenart eines Bildungssystems - geht mensch doch üblicherweise davon aus, hier würde es um Lernen und ein Besserwerden aller gehen soll.) Wenn das nicht organisierte (und zudem verschärfte) Auslese darstellt - was tut es dann?

Weitere Informationen zu kompetetiver Benotung unter anderem hier:
  • Jens Wernicke: Der Mythos von der Chancengerechtigkeit: Was PISA mit sozialer Selektion mit Benotung mit Leistungsideologie zu tun hat
  • UNiMUT aktuell: Ideologieproduktion in der Prüfungsordnung
Nach drei Jahren ist für die meisten Schluss

Mit Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 10.10.2003 wurde festgelegt, dass der Bachelor zukünftig der "Regelabschluss" ist. Ergo: Dass der Masterabschluss fortan als "Ausnahme" anzusehen ist.

Interessant hieran ist nicht nur, dass somit aus einstmals ca. 5-jährigen Abschlüssen (Diplom, Magister) für alle Studierenden nun ein 3-jähriger Abschluss für die Mehr- und ein 5-jähriger für die Minderheit gemacht wird. Interessant ist ebenso, dass zur Legitimation dieser faktischen Sparmaßnahme hier abermals eine auf "Leistung" rekurrierende - und daher als "gerecht" daherkommende - Barriere zu vermeintlicher "Bestenauslese" errichtet wird, die per se diskriminierend (siehe hierzu auch den Studis-Online-Artikel "Der Mythos von der Chancengerechtigkeit") ist. Weil nämlich: Leistung niemals unabhängig von der persönlichen Situation (allein erziehender Vater vs. Single) sowie individuellen Bevor- und Benachteiligung (Lernschwäche vs. Privatstunden bekommendes Akakademikerinnenkind) einzelner meßbar ist.

Nachweisbar ist solcherlei diskriminierende Auslese (siehe hierzu auch den Studis-Online-Artikel "Reicht Frauen der Bachelor-Abschluss?") bereits heute bspw. daran, dass der Frauenanteil im Übergang vom Bachelor zum Master von beachtlichen 53,2% auf nur noch 32,7% absinkt. Eine Tatsache, die das Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS) unlängst dazu brachte, zu vermuten, dass "der Rückgang des Frauenanteils vom Bachelor- zum Master-Abschluss in fast allen Fächergruppen auf [unter anderem] geschlechtsspezifische [mit "Leistung" also nichts gemein habende] Hindernisse bei einem solchen Übergang" (CEWS, S. 3) zurückzuführen ist.

Bitter erscheint in diesem Zusammenhang übrigens, dass viele Studierende und Studierendenvertretungen sich zwar ausdrücklich gegen eine starre Übergangsquote von beispielsweise 80:20 vom Bacherlor- zum Masterstudium wehren, nicht jedoch realisiert zu haben scheinen, dass es selbst ohne Quote zum einen (siehe Absatz zum Benotungssystem) stets nur 10% "Beste" (sowie ggf. noch 25% "Zweitbeste") geben kann und wird, und dass darüber hinaus qua neuer Studien- und Prüfungsordnungen zum anderen eben ausschließlich diesen der Zugang zum Masterstudium vorbehalten bleibt.

Weitere Informationen zur Zulassungbeschränkung des Masters anderem hier:
  • UNiMUT aktuell: Die Katze aus dem Sack
  • Armin Himmelrath: Bachelor und Master: Kein Zutritt zur Meisterklasse?
  • fzs: 10 Thesen zur Berücksichtigung sozialer Aspekte bei der Studienstrukturreform
Literatur
  • Torsten Bultmann und Oliver Schöller: Die Zukunft des Bildungssystems: Lernen auf Abruf - eigenverantwortlich und lebenslänglich! Oder: Die langfristige Entwicklung und politische Implementierung eines postindustriellen Bildungsparadigmas
  • Achim Meyer auf der Heyde: Ausgewählte Ergebnisse der 17. Sozialerhebung; in: Jens Wernicke/Michael Brodowski/Rita Herwig (Hrsg.): Denkanstöße. Wider die neoliberale Zurichtung von Bildung, Hochschule und Wissenschaft, Lit-Verlag Münster, 2005
  • UNiMUT aktuell: Ideologieproduktion in der Prüfungsordnung
  • Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung: Akkreditierung – Geschlechtergerechtigkeit als Herausforderung. Positionspapier zur Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland

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