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06.07.2006

"Wir boykottieren die Studiengebühren"

Berliner Zeitung vom 6.7.2006

"Berliner Zeitung vom 6.7.2006". Die Originalquelle findet sich hier.

Wir boykottieren die Studiengebühren

Studenten aus ganz Deutschland treffen sich heute zum Protest

Torsten Harmsen

Jochen Dahm macht sich Mut. "Ich glaube, dass wir noch eine Chance haben", sagt er. Man könne es schaffen, die Gebühren zu verhindern oder sie mittelfristig wieder abzuschaffen. Dahm setzt auf den Studentenprotest, der immer weiter um sich greift. In der vergangenen Woche sitzstreikten Studenten auf der Mainbrücke in Frankfurt, während die Stadt wegen eines WM-Spiels überfüllt war. Sie spielten Hase und Igel mit der Polizei, die in gepanzerten Monturen schwitzend durch die heiße Stadt jacherte. In Wiesbaden, Hamburg und Düsseldorf demonstrierten Schüler und Gewerkschafter mit. Gestern besetzten hessische Studenten zweieinhalb Stunden lang das Wiesbadener Wissenschaftsministerium. Und heute findet in Frankfurt die erste bundesweite Demo statt. Die Organisatoren erwarten zehntausend Studenten aus ganz Deutschland, aber auch Aktivisten aus Frankreich - dem Mutterland der Studentenproteste, auf das man neidisch guckt.

Belogen und betrogen

Jochen Dahm ist 25, studiert in Münster Politik- und Kommunikationswissenschaft und gehört als Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ABS) zu den Aktivisten der Proteste. Das Bündnis - ein Zusammenschluss von Studenten, Schülern, Eltern und Gewerkschaftern - will den Kampf gegen Studiengebühren zum generellen Kampf gegen den Sozialabbau ausweiten. "Geld ist nicht der wahre Grund für Gebühren", sagt Dahm der Berliner Zeitung. "Diese sollen eine Signalfunktion haben, im Rahmen einer Politik, die versucht, Errungenschaften wie Teilhabe, Mitbestimmung, Sozialstaat, freies Studium durch eine Marktideologie zu ersetzen."

Er und seine Mitstreiter haben kein leichtes Spiel. Eigentlich sind die Würfel schon gefallen. Sieben Bundesländer sind dabei, Studiengebühren einzuführen. Bis zum Wintersemester 2007/08 sollen bereits 70 Prozent aller deutschen Studenten Gebühren zahlen. In Niedersachsen, Baden-Württemberg, Hamburg, dem Saarland und Hessen will man einen einheitlichen Beitrag von 500 Euro pro Semester erheben, in Bayern und Nordrhein-Westfalen sollen die Unis selbst über die Höhe entscheiden, bis zu 500 Euro. In den restlichen Ländern hingegen gibt es noch keine konkreten Pläne.

Um so stärker legen sich die Aktivisten ins Zeug. Einer unter ihnen - ebenfalls Geschäftsführer des Aktionsbündnisses - tourt angeblich an manchen Tagen bis zu 2 000 Kilometer durch die Lande, um aus lokalen Gruppen ein Netzwerk gegen Studiengebühren zu knüpfen. Er heißt Amin Benaissa, studiert VWL und Politik und führt die Protestler in Frankfurt am Main, die als Kernzelle des Gebühren-Widerstandes gelten. Der 26-jährige Sohn eines Marokkaners - und nebenbei Bruder von Nadja Benaissa, bekannt geworden durch die Mädchenband No Angels - schildert in verschiedenen Medien begeistert die Aktionen, etwa auf der Jugendseite der IG Metall: "Wir haben zweimal die Autobahn blockiert und den Hauptbahnhof für einen halben Tag lahmgelegt" - "Uns bleibt gar nichts anderes übrig . Udo Corts, der hessische Wissenschaftsminister, hat erst mit uns geredet, als wir mit unsere Aktionen öffentlich Druck gemacht haben." Jochen Dahm bezeichnet Benaissa als das "face against the fees", das Gesicht des Protests. Er selbst bleibt im Hintergrund, organisiert, argumentiert.

Ob manche Universität das Geld aus Gebühren nicht dringend brauchen könne? Jochen Dahm dazu: "In keinem Land der Welt, das Studiengebühren einführte, ist das Geld bisher bei den Hochschulen geblieben. Immer wurden im Gegenzug die Mittel langfristig abgesenkt. In Australien und Österreich haben die Hochschulen heute sogar weniger Geld als vor Einführung der Gebühren. Man kann den Zugriff des Finanzministers nie ausschließen" Schon bei der Einführung der Langzeitgebühren, so sagte Amin Benaissa unlängst, habe man den Studenten versprochen, dass das Geld den Hochschulen zugute komme. Fast drei Jahre danach müsse man feststellen: Nur zehn Prozent seien in die Unis geflossen, der Rest sei im Landeshaushalt versickert. Zugleich habe man die Uni-Etats um 30 Millionen Euro gekürzt. Die Studierenden fühlten sich "belogen und betrogen", so Benaissa.

Aber sind die öffentlichen Kassen denn nicht wirklich leer? Jochen Dahm dazu: "Das wird gesagt. Aber zugleich gibt es Pläne, eine Unternehmenssteuerreform zu machen, die den Staat noch mal eben um die fünf Milliarden Euro kosten wird. So leer können die Kassen also nicht sein. Wenn wir allein die Steuersätze von vor einigen Jahren wieder einführen würden, hätten wir genug Geld, um alle öffentlichen Aufgaben zu finanzieren - auch die Hochschulen." Und die zinsgünstigen Kredite, die jedem Studenten angeboten werden? Jochen Dahm: "Zinsgünstig? Das bedeutet: Momentan sind sechs Prozent Zinsen festgelegt, und die führen dazu, dass derjenige, der auf den Kredit angewiesen ist, am Ende das Doppelte der Gebührenhöhe zahlt. Angenommen, zwei Leute studieren zehn Semester. Dann muss der eine 5 000 Euro Gebühren zahlen und der andere mit Zinsen und Zinseszins etwa 10 700 Euro." Genau das ist für die Aktivisten wie Dahm und Benaissa sozial höchst ungerecht.

500 Euro Gebühren pro Semester. Das bedeutet nach Dahms Rechnung pro Monat etwa 80 Euro Belastung, die auf die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von 700 Euro hinzukommen. Bereits jetzt arbeiten zwei Drittel aller Studenten. Sie hätten die Wahl, so Dahm, noch mehr zu arbeiten und damit ihr Studium weiter zu verlängern, oder sich zu verschulden. Das schrecke viele vom Studium ab, vor allem Kinder aus dem unteren Mittelstand und Bafög-Empfänger, die am Ende ja einen doppelten Schuldenberg abzutragen hätten. Zumal auch die Einkommensgrenze, ab welcher der Kredit zurückzuzahlen ist, sehr knapp bemessen sei: "In Bayern liegt sie bei rund 1 000 Euro, unter der Armutsgrenze, und in Nordrhein-Westfalen bei 960 Euro. Das ist sogar unter der Pfändungsgrenze", so Dahm.

Notfalls wird geklagt

Wie lange die Proteste laufen, weiß man nicht. Immerhin geht es in die Sommerferien. In Nordrhein-Westfalen versuchen Studenten noch, Gebührenbeschlüsse an ihren Unis zu verhindern. Sie besetzen Rektorate und sprengen Senatssitzungen. Auch Pläne für das weitere Vorgehen gibt es, bis hin zum Gang vors Gericht. So stellten die Bündnis-Aktivisten im November 2005 ein Rechtsgutachten vor, das den Gebührenerhebern Verstöße nachweist, etwa gegen den Vertrauensschutz für bereits eingeschriebene Studenten oder gegen den UN-Sozialpakt, der in Deutschland "die schrittweise Unentgeltlichkeit des Studiums" vorschreibe. Auch ein Gebührenboykott ist geplant, in Niedersachsen. Jochen Dahm schildert die Idee: "Wenn ein Drittel der Studierenden die Gebührenzahlung verweigert, kann es sich eine Hochschule nicht leisten, sie alle zu exmatrikulieren, und ist damit lahm gelegt." Ja, wenn.

Berliner Zeitung, 06.07.2006
 

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